Arbeit ist kein Ort mehr

 

Es gibt viele Dinge, die wir in den durchschnittlich 80 Lebensjahren auf diesem Planeten, lieben könnten. Die wunderbar weichen Ohren von reinrassigen Cockerspaniel zum Beispiel, die Sommersprossen unserer Freunde, die ersten Schritte unseres zweiten Kindes, die Sonnenuntergänge am Strand von Norddeich-Mole und die Erkenntnis, dass wir in diesem großen Kosmos nur eine winzige Rolle spielen, und durch Liebe, universeller Großherzigkeit und einer ordentlichen Portion Vergebung zur wahren Größe finden.

Anstatt unsere Lohnarbeit mit einer klaren Kosten-Nutzen-Analyse zu rationalisieren, und zu erkennen, dass wir sie eben nur absolvieren, um Zeit für das Wesentliche zu haben, lieben wir unsere Arbeit. Wir lieben sie wirklich. Wir finden Lohnerwerb so toll, dass schon Kinder auf die Frage, was sie denn später mal „werden“ wollen, damit antworten, wie sie sich in zwanzig Jahren mal ihren Unterhalt verdienen möchten.

Auch ich stelle Kindern diese Frage und fühle mich dann immer etwas beruhigt, wenn sie mit etwas „sinnvollem“ antworten. Die, die wir lieben, wollen wir in Sicherheit wissen. Die ganzen Erfahrungen mit Unterhaltungswert (Trennungen, soziale Abstürze, irre Drogentrips, grenzwertig berauschende Nächte) wünschen wir uns nur von denjenigen, die wir nicht persönlich kennen: Promis, Serienfiguren und Leuten, denen wir zufällig auf Instagram folgen. Die Leute, die wir lieben, sollen es mal gut haben. Und sie sollen uns keine Sorgen bereiten.

Das professionalisierte Ich

 „Mach dein Sauerkrautdiplom und schrei es in, und schrei es in, und schrei es in ein Megaphon.“ — Fortuna Ehrenfeld, Das heilige Kanonenrohr

Wir tun so, als könnten wir aufgrund des Berufswunsches des Kindes ungefähr vorhersehen, in welcher Kaste er oder sie mal leben wird. Das liegt daran, dass wir uns im durchschnitt vier bis acht Stunden am Tag, neununddreißig Jahre lang an unserem Arbeitsplatz aufhalten, und unseren Kleidungsstil, unser soziales Umfeld und unsere Lebensumstände dem Beruf meistens anpassen.

Das „professionalisierte Ich" bietet uns einen Rahmen und Orientierung. Wir wissen, wie sich Handwerker, Krankenschwestern, Polizistinnen und Lehrer zu Verhalten haben, weil wir sie in Filmen tausendfach gesehen haben. Wir haben sie vorgelebt und zitiert bekommen. Zum Geburtstag kann man dann unverbindliche Dinge an Leuten schenken, die man zwar gut, aber nicht gut genug kennt. Dann bekommen Bierbrauer Socken mit Bieren drauf geschenkt, Piloten kleine Miniatur-Flugzeuge und ich das dreihundertste Notizbuch. Was nicht schlimm ist — ich liebe Notizbücher.

Der Paartherapeut David Schnarch spricht immer dann von emotionaler Verschmelzung, wenn man im Außen nach Bestätigung für die eigene Wertigkeit und Identifikation suchen muss. Wenn also zum Beispiel der Familienvater jeden Tag am Tischende sitzt und immer als erstes Essen bekommt, dann wird ihm zum einen seine Rolle als Vater gespiegelt, zum anderen wird er in ihr bestärkt. Würde er ganz plötzlich von der Familie nicht mehr ernst genommen und bevorzugt werden, dann würde ihn das vermutlich in eine tiefe Identitätskrise stürzen.

Nicht nur im privaten Bereich, auch im beruflichen Kontext wird der Selbstwert meistens im Außen definiert. Wie wertvoll unser Arbeitsplatz für die Gesellschaft ist, wird im Gehalt und in der sozialen Wertschätzung gespiegelt.

Mit der Corona Pandemie wurden viele Mitarbeiter ins Home Office geschickt — inzwischen arbeitet jeder vierte Deutsche von Daheim. Mit dem Home Office geht uns nicht nur der physische Arbeitsplatz, sondern auch die einhergehende Selbstbestätigung verloren.

Das Problem: Wie viele Menschen kenne ich mich ganz gut mit meinem professionellem Ich aus. Zu wissen, wer ich wirklich und außerhalb dessen bin, fällt mir viel schwerer.

Für mich ist es auf den ersten Blick viel leichter, Autorin, als Anika zu sein. Wer wir wirklich sind, spüren wir sehr selten. Kinder wissen sehr genau, was sie spüren, was ihnen Freude bereitet und wo ihre Grenzen sind. Doch damit acht Milliarden Menschen weitestgehend friedlich miteinander koexistieren können, wird uns diese Intuition systematisch abtrainiert.

Die ehemalige Prostituierte Ilan Stephani, schrieb den Bestseller „Lieb und teuer — was ich im Puff über das Leben lernte“ und sagt darin, dass sie als Akademiker-Kind mit 1er Abitur die besten Voraussetzungen für die Arbeit im Bordell mitbrachte: Sie wusste, was man tun muss, um von anderen gemocht zu werden, und sie hatte sich sowohl ihre Intuition als auch ihr Körpergefühl in zwölf langen Schuljahren gänzlich abgewöhnt.

Im Deutschen ist es so: Je größer der Effekt unserer Eigenschaften auf unsere Wirkung ist, desto mehr tendieren wir in der Sprache dazu, das Wort „haben“ durch „sein“ auszutauschen. Haben tun wir Dinge, die wir auch nicht mehr haben können: Pickel, Migräne, Jobtickets. Je stärker wir uns mit einer Eigenschaft identifizieren, desto eher tendieren wir dazu, vom Sein zu sprechen. Wir haben zum Beispiel blaue Augen, aber wir sind dick. Ich habe nicht Anika, ich bin Anika. Ich habe zwar einen Job — aber ich bin Autorin.

Natürlich kann man versuchen, Zuhause genauso ambitioniert zu arbeiten, Anzug und Krawatte zu tragen oder über Zoom nett zu den Kollegen zu sein. Doch die These, dass wir uns Zuhause nicht so zurechtmachen, wie wir es für das öffentliche Leben gewöhnt waren, wurde durch die Zahlen des deutschen Kosmetikverbands im Nachhinein bestätigt. Der Absatz von Lippenstiften schrumpfte nach Angaben des Marktforschers npd Group im Jahr 2020 um 49%. Kein Wunder: Plötzlich war es möglich, volles Gehalt zu beziehen und trotzdem 24/7 in Jogginghose zuhause rumzusitzen.

Natürlich ist das nur ungefähr drei Tage lang aufregend, danach vermissen viele wieder ihren Arbeitsalltag, die vertraute Struktur und die bereichernden Kontakte innerhalb des Unternehmens. Doch wenn uns Corona eins gelehrt hat, dann das: Es geht eben auch anders. Und warum sollte das auch nicht?

Der Acht-Stunden-Tag wurde in Deutschland am 23. November 1918 für die zahlreichen Fabrikarbeiter eingeführt, und ist damit inzwischen mehr als hundert Jahre alt. Der englische Sozialreformer Robert Owen, hat schon 1810 darauf plädiert. Er prägte den Slogan: „Acht Stunden Arbeit, 8 Stunden Schlaf, 8 Stunden Freizeit und Erholung.“

Zweihundert (!) Jahre später, halten wir es immer noch ähnlich, obwohl sich inzwischen nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch unsere Infrastruktur bedeutend verändert haben. Vieles geht heute wesentlich schneller als früher, trotzdem arbeiten wir gleich viele Stunden, oftmals mehr. Die Arbeit hat sich — im Vergleich zu damals — auch weg von der körperlichen, hin zur kreativen und geistigen Arbeit und Organisation hin verschoben. Nur auf Strenge und Disziplin zu pochen, sind also fast mittelalterliche Werte, die wir grundsätzlich überdenken sollten. Denn in einem erdrückend hierarchischen, machtorientierten Arbeitsumfeld versiegt den meisten aus Angst jede Kreativität.

Durch neue Methoden wie zum Beispiel dem „Employee Experience“ wird versucht, auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer besser einzugehen. Ihnen soll ein möglichst inspirierendes Arbeitserlebnis geschaffen werden, welches sich unmittelbar und langfristig auf deren Engagement für das Unternehmen auswirkt.

Zudem müssen wir auch nicht mehr, wie die Arbeiter im 19. Jahrhundert, jeden Tag an festen Maschinen stehen. Unsere Arbeitsgeräte passen inzwischen in eine Handtasche, und können an jedem Ort der Welt mit einer vernünftigen Netz und WLAN-Verbindung benutzt werden: Handy und Laptop.

Doch warum kommen wir erst jetzt darauf, von Zuhause aus zu arbeiten? Und sehnen wir uns wirklich nach den alten Arbeitsbedingungen zurück? Das Institut Kantar Emnid befragte zu dieser 1008 Menschen, an welchen ihrer Corona-Gewohnheiten sie nach der Pandemie höchstwahrscheinlich festhalten werden. Dabei gaben nur 23 Prozent an, künftig häufiger im Homeoffice arbeiten zu wollen. Arbeiten von zuhause, sagt man, ist wie Leben im Büro. Das, was früher Belohnung nach der Arbeit war, ist jetzt immer verfügbar. Wir können zwar vom Sofa aus arbeiten. Das bedeutet aber auch, dass wir auf dem Sofa nicht mehr entspannen, sondern an die Arbeit denken.

Bless This Home (Office)

„Freunde sind wichtig, Party, was anfassen können. Eigentlich geht es um die Frage: Was ist Mensch? Und was will Mensch? Und kann eine totale digitale Welt das abbilden?“ — Andre Wilkens, Politikwissenschaftler und Autor

In einer digitalisierten Welt, in der wir beständig Leute sehen, die glücklicher, erfolgreicher, schöner, intelligenter sind als wir selbst, müssen wir uns oft daran erinnern, dass wir auch dazugehören. Wir trinken Coffee-to-go im Gehen, wir akzeptieren die AGBs, ohne sie zu lesen, wir spulen Meditation-Sessions auf YouTube mit 1,5-facher Geschwindigkeit ab. Abgesehen vom Gehalt, und anderen extrinsischen Motivationsfaktoren, ist deshalb oftmals auch die Arbeitsethik, ganz unabhängig vom physischen Aufenthaltsort, entscheidend für das eigene Selbstbewusstsein.

Die Welt dreht sich nicht nur schneller: Wir nehmen diese Schnelligkeit auch an. Auf der einen Seite, weil wir unbedingt an diesem Rennen teilnehmen wollen, auf der anderen Seite, weil es immer noch schambesetzt ist, abgehängt zu werden.

Menschen, die nicht „gefragt“ sind, auf die Zuhause keinen 1.293 ungelesene E-Mails warten, die nicht um Rat gefragt werden, keinem Job auf dem ersten Arbeitsmarkt nachgehen oder gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, sind häufig die, die wir politisch als „Sozialfall“ deklarieren. Demente, obdachlose, drogenabhängige oder chronisch kranke Menschen sind von sozialem Abstieg und Isolation betroffen.

„Wenn man sich nur über seinen Job identifiziert, sind Menschen ohne Job einfach nichts.“ Sagt die ZEIT Autorin Anna Mayr, in ihrem neuen Roman „Die Elenden“.

„So sicher, bequem, ungebunden, in ein Leben mit 36 Paybackpunkten. Und alle sind am Leben, 5 Tage, 40 Stunden und definieren sich über das, was man  den Tag so macht. Und Hallo, was machst du so, was ist aus dir geworden, und wie fühlt es sich so an, wenn man es geschafft hat, vollbeschäftigt, unbefristet, glücklich?“                                                                                                                                                                                                                          — Kettcar, Geringfügig, befristet, raus

Es ist nicht nur unsere Angst, abgehängt zu werden. Das Lebensgefühl und der Bezug zur Arbeit hat sich, seitdem Nietzsche Gott für tot erklärt hat, ganz grundsätzlich verändert. Menschen haben schon immer versucht, sich durch Glaubenssätze einen Lebenssinn herzuleiten. Mit der Aufklärung und dem verständlichen Zulauf an Atheisten und Agnostikern wird die tägliche Arbeit und der Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit mehr und mehr auch zu Sinnstiftung. Die eigene Arbeit wird immer politischer. Sie gehört heute zum Lifestyle dazu und repräsentiert Werte: Wir möchten erfolgreich sein, die Welt verbessern, unsere Eltern stolz machen und ein Vorbild für unsere Kinder sein.

Doch selbst das ist nicht mehr unreflektiert möglich, denn Produktivität und Leistung kann inmitten einer Klimakrise nicht mehr ignorant in SUVs und schicken Einbauhäusern ausbezahlt werden. Gerade die Generationen Y und Z sind sich ihrem ökologischen Fußabdruck bewusst, und möchten ihn möglichst klein halten.

Das bedeutet, dass wir in einem ständigen Konflikt leben: Auf der einen Seite, wollen wir unsere Umwelt prägen und mitgestalten. Auf der anderen Seite sind wir als Industrieland so stark in die globalen Abläufe eingebunden, dass oftmals Arbeitskräfte über drei Ecken an unserem Reichtum leiden, oder in Form von Kinderarbeit, mangelhaften Grundrechten und geringem Lohn dafür zahlen.

Eine große Reichweite und einen möglichst kleinen Fußabdruck

Wie wir mit den Herausforderungen der Zukunft umgehen werden, ist ungewiss. Auch, wenn die Arbeit von Daheim aus für viele keine Dauerlösung darstellt, so kann die aktuelle Zeit doch eine Chance dafür sein, bestehende Machtstrukturen und alte Gewohnheiten zu hinterfragen, um von der strukturierten Fassade in die gefühlte Authentizität zu kommen.

Es wird Zeit für eine neue Unternehmenskultur, in der Innovation und Kreativität mindestens genauso wertgeschätzt werden, wie Ausdauer und Contenance. Und die kann eben nicht in einem chronischen Erschöpfungsmodus entstehen, wie wir ihn immer wieder produzieren. Teils, weil die Multi-Tasking-Anforderungen in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen ist, teils aber auch, weil wir immer noch an alten Strukturen festhalten, die längst nicht mehr zielführend sind, die ja — wenn wir an die Fabrikarbeiter im 19. Jahrhundert denken — für eine völlig andere Zeit erdacht wurden. Wir sollten uns die Frage „Geht das einfacher?“ Auch nach Corona noch stellen, auch, wenn viele dann tatsächlich an einen festen Arbeitsplatz zurück wollen — doch vom Stigma, dass nur ein fester Arbeitsplatz von „ehrlicher“ und guter Arbeit zeugt, ist bis dahin hoffentlich passé.

Natürlich ist das, was dann kommt, erstmal befremdlich: Wir sind die ersten Menschen, die in vielen Bereichen heute schon beinahe vollständig digitalisiert arbeiten können, und es gibt leider aus dem selben Grund noch keine Langzeitstudien, wie genau das ablaufen kann.

Trotzdem sollten wir dem Thema angstfrei begegnen und auch die Chancen sehen, die sich durch ortsunabhängiges Arbeiten ergeben. Fest steht, dass die Corona-Pandemie einen Stein ins Rollen gebracht hat, der so schnell nicht mehr aufzuhalten ist. Wir können durch die Arbeit im Home Office lernen, unseren Selbstwert weniger im Außen zu suchen. Und dann kann man, nachdem man sich endlich klar gemacht hat, dass der Erfolgsruck lediglich ein Symptom ist, und eine Therapiestunde vielleicht viel besser täte als eine Beförderung, auch wieder über Cockerspanielohren streicheln, oder den Sonnenuntergang am Strand von Norddeich-Mole genießen.

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